Matthias Tamrat ist Züchter und Besitzer von Galopprennpferden und Mitglied im Vorstand der Besitzervereinigung. Das beste Pferd aus der Zucht des IT-Systemarchitekten, der bei einem der weltweit größten IT-Dienstleister beschäftigt ist, war Kabir, der bis ins hohe Alter gerade in Frankreich für Furore sorgte. Tamrat gilt als Mann der offenen Worte, der Diskussionen nicht scheut und polarisiert. Gründe genug für ein Inside-Interview mit dem im Westerwald lebenden gebürtigen Bremer auf dem RaceBets-Blog.
Die heutigen Rennen bei RaceBets
Wie und wann entstand bei Ihnen persönlich der erste Kontakt zu den Rennpferden? Und was ist für Sie das Faszinierende an der Zucht von Pferden?
Matthias Tamrat: Die erste Frage kann ich sehr genau beantworten: Das war im Winter 89/90, als ich in West-Berlin lebend nach dem Mauerfall mit meiner damaligen pferdebegeisterten Freundin erstmals nach Hoppegarten fahren konnte. Ich war von der Anlage, auf der die Zeit irgendwie stehengeblieben schien, und von der Beobachtung des Trainings sofort begeistert. Der deutsch-deutsche Renntag am 31. März 1990 war ein prägendes Erlebnis. Die Rennpferde haben mich seither nicht mehr losgelassen.
Ich kam ohne Vorwissen und ohne familiären Hintergrund zum Sport – als normaler Zuschauer, der allerdings nicht nur zu den Renntagen kam, sondern gerne auch morgens um sechs in Gummistiefeln um die Trainierbahn watete, um anschließend zum Frühstück ins Logierhaus einzukehren. Ich kann keinen Grund nennen, aber bald begann ich mich für die Zucht zu interessieren, recherchierte – damals noch ohne Internet – Abstammungen und las alles, was ich zum Thema finden konnte.
Die Faszination der Vollblutzucht liegt in der wunderbaren Verschränkung von Theorie und Praxis. Auf der einen Seite sind Stammbäume, Katalogseiten, Race Records, Hengststatistiken, Inzuchtkoeffizienten, Familiennummern, Dosage Profile und vieles mehr, Sinnvolles und weniger Sinnvolles. Auf der anderen Seite haben wir 500 Kilo schwere und 60 km/h schnelle Lebewesen mit faszinierenden Charakteren und eine über Jahrtausende gewachsene Beziehung zwischen Pferd und Mensch. Ich war zunächst ein reiner Theoretiker mit angelesenem Wissen und dem einen oder anderen eigenen Gedanken. Die Praxis war weit weg, ihre Faszination wurde für mich spürbar, wenn ich gelegentlich einem Vollblüter ins Auge sehen durfte, oder wenn ich vorne am Geläuf stehend das Beben des Bodens unter dem vorbeipreschenden Feld spürte. Zur eigentlichen Praxis bin ich erst durch meine Frau gekommen, die ich 2008 durch unseren Sport kennenlernte und die mir seither – selber von Kindesbeinen an mit Pferden vertraut und seit ihrer Jugend in täglichem Umgang mit Vollblütern – einige Lektionen erteilen konnte.
„Kabir war der herausragende Zuchterfolg“
Kabir war das herausragende Pferd, aber es gab sicher auch Zeiten, in denen es weniger gut lief. Welche Momente ragten heraus, und wie haben Sie sich nach Rückschlägen immer wieder neu motiviert?
Matthias Tamrat: Auch wenn Kabir vielleicht nie sein volles Potential realisieren konnte, war er für meine Frau und mich der herausragende Zuchterfolg, wobei sein rechter Bruder Kir Royal durchaus ein ähnliches Potential hatte. Karena, die Mutter der beiden, haben wir mit bestehenden gynäkologischen Problemen für sehr kleines Geld auf der BBAG Herbstauktion gekauft. Die Anpaarung mit Lord of England war sozusagen ein No-Brainer, da es bereits sehr gute Nachzucht von dessen Vater Dashing Blade gab. Traurig waren wir, dass es nicht mehr gelungen ist, ein Stutfohlen aus der Karena (die übrigens inzwischen 28 noch immer bei und mit uns lebt) zu bekommen, mit dem wir diese Linie hätten fortführen können. Allerdings hatten wir mit Key to Win eine Enkelin der Karena, die uns mit der ordentlichen Kanji und mit der ungarischen Oaks-Siegerin Köln zwei weitere Highlights geschenkt hat. Kanji haben wir von ihrem Besitzer zurückgekauft und in die Zucht genommen. Leider wurde sie bei der Geburt ihres ersten Fohlens so schwer verletzt, dass sie später erlöst werden musste – das war der absolute Tiefpunkt unserer Züchterlaufbahn.
Neben solchen Tragödien von denen wir glücklicherweise eher selten heimgesucht wurden, gibt es natürlich jede Menge züchterische und finanzielle Misserfolge. Da Zucht und Vermarktung nicht nach festen Regeln in jedem Einzelfall vorhersagbar sind, muss man das aber von vornherein einkalkulieren. Die Motivation ist und bleibt die Freude an den Zuchtstuten, die immer wieder spannende Planung der Anpaarungen, das Verfolgen des Aufwachsens der Fohlen und ihrer späteren Laufbahn.
„Auch individuelle Eigenschaften jeder Stute sind zu berücksichtigen“
Wie sind Ihre wichtigsten Prinzipien bei der Aufzucht und Auswahl der Deckhengste?
Matthias Tamrat: Für unsere Fohlen kommt nur die Aufzucht in einem erstklassigen professionell geführten Gestüt infrage. Große Jährlingsgruppen, entsprechend große Weiden, ein gutes Weidemanagement sowie erstklassige Fütterung und tierärztliche Betreuung sind unverzichtbar, wenn man verkaufen muss, außerdem eine professionelle, am Individuum orientierte Auktionsvorbereitung. Von wenigen praktisch bedingten Ausnahmen abgesehen werden seit vielen Jahren alle unsere Fohlen im Gestüt Etzean aufgezogen.
Über die Auswahl der Deckhengste könnte man eine längere Abhandlung verfassen. Die Vollblutzucht verlangt als Leistungszucht selbstverständlich eine in erster Linie leistungsorientierte Auswahl, dabei sind natürlich individuelle Eigenschaften jeder Stute zu berücksichtigen. Ein junger Hengst ist an seiner eigenen Rennleistung, ein älterer Hengst vor allem an der Leistung seiner Nachzucht zu messen. Dabei kann man die Messlatte eigentlich gar nicht zu hoch hängen: Ein Gruppe III-Sieg reicht nicht, ebensowenig der eine oder andere Sieger unter der Nachzucht. Ein junger Hengst sollte möglichst mit eigenen Gruppe-I-Leistungen aufwarten und seine Leistung über mehrere Saisons gezeigt haben. Von einem erprobten Hengst sollte man deutlich über 10% Blacktype-Pferde sowie mindestens um die 3% Gruppesieger unter den gelaufenen Nachkommen erwarten. Glücklicherweise gibt es in Deutschland noch immer eine (knapp) zweistellige Zahl von Hengsten, die einen wesentlichen Teil dieser Kriterien erfüllen.
Eine verbreitete Unsitte ist hingegen die Auswahl der Hengste nach Pedigree ohne hinreichende Berücksichtigung der Renn- und Vererberleistung. Im Fahrwasser internationaler Spitzenhengste, die natürlich für einen Großteil der Züchter nicht erreichbar sind, werden so immer wieder auch deren engere Verwandte aus der zweiten und dritten Garnitur angepriesen und überdurchschnittlich oft gewählt. Dadurch ergibt sich eine immer stärkere Ausdünnung der Hengstlinien (und damit der genetischen Vielfalt) auf einige wenige populäre Linien – ich spreche hier gerne vom ‚Modeblut‘, was durchaus provozierend (und damit zu Diskussionen anregend) gemeint ist.
Kommen wir zu Ihnen als Besitzer: Aktuell lassen Sie einen Zweijährigen in Ungarn vorbereiten. In Deutschland hat man Ihre Farben lange nicht mehr gesehen, was bei einem Vorstandmitglied der Besitzervereinigung verwundert. Was sind die Gründe? Wird sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern?
Matthias Tamrat: Ich bin nicht gerne Besitzer. Ich habe wenig Freude daran, angespannt auf der Rennbahn zu stehen – übrigens meist ohne dass sich irgend jemand um einen kümmert – um im allergünstigsten Fall auf dem Siegertreppchen den warmen Händedruck eines Sponsoren und vielleicht ein Schlückchen Sekt zu erhalten, bevor ich dann schon wieder aus den heiligen Hallen hinauskomplementiert werde. Ein Highlight sind die Besuche im Trainingsstall, aber auch da muss man schon gute Kontakte haben, um nicht einfach nur herumzustehen. Für erfolgreiche Besitzer besserer Pferde mag sich das teilweise anders darstellen, aber dazu fehlen nicht nur mir die finanziellen Voraussetzungen. Hinzu kommen die eher geringen Einflussmöglichkeiten des normalen Besitzers. Ein geborener Racing-Manager wie Holger Faust kann die Dinge auch bei den eigenen Pferden selbst in die Hand nehmen, das können aber nur sehr wenige. Ich bin wie die meisten anderen gut beraten, mich auf meinen Trainer zu verlassen, insofern enden die Einflussmöglichkeiten mit der Auswahl von Pferd und Trainer.
Wenn meine Frau und ich trotzdem gelegentlich als Besitzer aktiv werden, dann gibt es dafür nur zwei Gründe: Zum einen haben wir ein paar Mal versucht, eine selbstgezogene Stute für die Zucht zu qualifizieren und brachten deshalb Kanji (über deren trauriges Schicksal ich schon berichtet habe) und später Key West (die sich als Top-Jährling präsentierte, aber leider wenig Talent zeigte) in den Farben von Stall proclamat an den Start. Zum anderen kann es leider passieren, dass ein Jährling auf der Herbstauktion nicht verkauft wird. Eine Stute kann man noch für einige Wochen zuhause oder im Gestüt versorgen, während man nach einer Lösung sucht. Mit einem Hengst ist das schwierig. Wir waren zwei Mal in dieser Situation. Einmal haben wir den kleinen Hengst verschenkt und dafür leider wenig Freude zurückbekommen. Deshalb habe ich vor einem Jahr entschieden, unseren D Day selber in Training zu geben. Da ich mir das Training in Deutschland auch beim allerbesten Willen nicht mehr leisten kann, habe ich mich für Csaba Zala, mit dem ich schon länger in Kontakt bin, entschieden.
Natürlich würde ich gerne den Trainingsstandort Deutschland unterstützen. Trotzdem darf ich auch als Vorstandsmitglied der BV sicherlich im Ausland trainieren lassen, wenn die individuellen Gegebenheiten dies nahe legen. Ich bin übrigens nicht das einzige Vorstandsmitglied, das ein Pferd im Ausland trainieren lässt.
„Unser Markt für Startpferde wurde praktisch eliminiert“
Sie haben die umstrittene Einfuhrgebühr für Pferde aus dem Ausland initiiert. Hierfür gab es heftige Kritik gerade von Trainern, die Pferde günstig dort einkaufen. Ist das in Zeiten immer kleiner werdender Starterfelder nicht kontraproduktiv?
Matthias Tamrat: Die Gebühr für die Registrierung aus dem Ausland eingeführter Pferde gibt es schon lange, allerdings hat die Mitgliederversammlung von Deutscher Galopp diese Gebühr mit Beschluss vom 7.12.2022 von 160 auf 500 Euro erhöht, nach ausgiebiger Diskussion in den verschiedenen Gremien und bei nur einer Gegenstimme. Die Gegenstimme kam übrigens nicht aus dem Kreise der Trainer und nicht von einem gewählten Mitglied der Vollversammlung, sondern von einem bezahlten Rennvereinsvertreter, der damit gegen seinen Chef stimmte und der in der Vergangenheit selber ein erhebliches geschäftliches Interesse an den Pferdeimporten hatte. Es ist vermutlich zu viel der Ehre, mich als alleinigen Initiator dieser Erhöhung darzustellen, aber ich nehme dies gerne an, denn ich halte diesen Beschluss nach wie vor für richtig.
Zunächst halte ich es für sehr unwahrscheinlich, dass wegen einmalig 340 Euro zusätzlicher Gebühren auch nur ein einziges Pferd weniger an den Start kommt. Dies zumal diese Gebührenerhöhung in unmittelbarem Zusammenhang mit einer deutlichen Rennpreiserhöhung zustande kam, die auch in den niedrigen Klassen mindestens 500 Euro beträgt. Damit ist diese Gebührenerhöhung bereits mit einem Sieg und einer Platzierung mehr als kompensiert, und alle Besitzer, auch die Besitzer importierter Pferde sind insgesamt bessergestellt. Diese Rennpreiserhöhung war aber nur im Zusammenhang mit einer höheren Beteiligung der Besitzer an den Kosten des Verbandes durchzusetzen. Man hätte die Alternative gehabt, alle Gebühren ein wenig zu erhöhen. Da aber Besitzer und Züchter ab der Geburt eines Fohlens mit ihren Gebühren erheblich zur Finanzierung unseres Verbands beitragen, schien es im Sinne einer gerechten Verteilung der Gebührenlast geboten, insbesondere diejenigen Besitzer, die im Ausland einen Jährling oder startfertiges Pferd erwerben, stärker als bisher an den Kosten zu beteiligen.
Man sollte sich vor Augen führen, dass den deutschen Käufern mit England, Irland und Frankreich drei Märkte offen stehen, die jeweils ca. 10 mal größer sind als unser heimischer Markt und die alle unter dem Druck einer erheblichen Überproduktion stehen. Die Menge der Pferde, die auf diesen Märkten nicht zu verkaufen sind, übersteigt unsere gesamte Produktion. Damit ergibt sich dort die Möglichkeit sehr günstiger Einkäufe, was unseren Markt für Jährlinge erheblich unter Druck setzt und unseren Markt für Startpferde praktisch eliminiert hat. Die Franzosen schützen ihren Markt mit protektionistischen Maßnahmen (Starterlaubnis, Inländerprämie), was die Lage für deutsche Anbieter noch verschärft. Ich denke, dass auch unter diesem Gesichtspunkt vorsichtige steuernde Maßnahmen erforderlich sind und begrüße die Gebühr insofern auch als einen bescheidenen Beitrag zur Stärkung des hiesigen Binnenmarkts. Hier sind allerdings weitere Maßnahmen erforderlich, so muss z.B. dringend darüber nachgedacht werden, wie wir wieder einen funktionierenden Markt für Startpferde auf die Beine stellen können.
„Der Umgang mit den Besitzern auf der Rennbahn ist ein sehr wichtiges Thema“
Eine der Hauptaufgaben der Besitzervereinigung ist es, neue Besitzer für den Sport zu gewinnen oder zumindest die derzeitigen zu halten. Der Pferdebestand geht in Deutschland immer weiter nach unten. Als Vorstandsmitglied der BV, wie lässt sich dieser Trend umkehren? Und um welche Bereiche kümmern Sie sich in erster Linie dort?
Matthias Tamrat: Die immer weiter sinkende Zahl von Besitzern und entsprechend von Pferden im Training ist in der Tat alarmierend. Ein funktionierendes Rennsystem, in dem Basissport und Spitzenevents ihren Platz haben, erfordert eine gewisse Mindestzahl von Startern und diese ist leider bald erreicht. Um ein Beispiel zu nennen: Nur ca. 1% der Rennpferde erreicht ein Leistungsniveau, mit dem es einigermaßen aussichtsreich in einem Gruppe-I-Rennen laufen kann. Das wären bei unserem augenblicklichen Bestand von ca. 1.800 Pferden im Training ganze 18, die sich auf verschiedene Alters- und Distanzklassen verteilen. Wir benötigen daher bereits jetzt in erheblichem Umfang ausländische Starter, um unsere Spitzenrennen durchführen und deren Status halten zu können. Ein Wegbrechen des Spitzensports wäre umgekehrt ein verheerendes Signal für die Zucht die ihrerseits auch Grundlage für einen gesunden Basissport ist.
Den seit vielen Jahren zunehmenden Besitzerschwund aufzuhalten, besser sogar umzukehren ist eine gemeinsame Aufgabe aller Beteiligten. Die Besitzervereinigung als Vertretung der Besitzer und Züchter ist am Geschehen auf den Auktionen, in den Trainingsställen und auf den Rennbahnen nicht unmittelbar beteiligt. Sie kann zum einen auf Ihre Mitglieder einwirken, zum anderen über die Gremien auf die Arbeit des Verbandes und bestenfalls mittelbar auf die Arbeit der Trainer und Rennvereine. Außerdem kann sie in bescheidenem Umfang durch eigene Informationsveranstaltungen, Broschüren, und Events wie etwa den jährlichen ‚Expertentag‘ motivieren.
Es gibt m.E. nicht den einzelnen bestimmenden Faktor, der eine Trendwende herbeiführen könnte. Vielmehr ist intensive Arbeit an vielen Punkten erforderlich. Hierzu gehört das Image des Sports, es muss uns gelingen, unsere Bemühungen um Tierwohl, Nachhaltigkeit und fair play besser zu kommunizieren. Die steigenden Kosten, die überwiegend durch externe Faktoren bedingt sind, werden wir nicht ändern können, aber wir werden uns weiterhin bemühen müssen, unnötige Kostensteigerungen abzuwenden. Besitzergemeinschaften ermöglichen auch Normalverdienern, sich aktiv am Rennsport zu beteiligen und verdienen erhöhte Aufmerksamkeit und Förderung.
Ein sehr wichtiges Thema ist der Umgang mit den Besitzern auf der Rennbahn. Hier kommt den Rennvereinen eine Schlüsselrolle zu, die beileibe nicht leicht mit Leben zu füllen ist: An einem durchschnittlichen Renntag haben wir 60-70 Starter. Nicht jeder Besitzer erscheint, manche haben mehrere Pferde am Start. Nicht jeder Besitzer kommt allein. Unterm Strich ist mit 30 bis 100 Personen zu kalkulieren, die erheblich zu dem Event beitragen, indem sie Ihr Pferd vorbereiten lassen und an den Start bringen, und die den Anspruch haben, einen schönen Tag zu erleben, auch wenn sie nicht auf dem Treppchen stehen. Wenn es den Veranstaltern nicht gelingt, diesem Anspruch besser als bisher gerecht zu werden, wird der Besitzerschwund nicht aufzuhalten sein.
Ein weiteres brennendes Thema ist die Außendarstellung unseres Sports. Aufgrund des sehr geringen Medieninteresses und der begrenzten finanziellen Möglichkeiten des Verbands liegt diese in wesentlichen Teilen in den Händen der Wettanbieter. Hier hat sich einiges verbessert, insbesondere mit Blick auf den Videostream gibt es aber weiterhin sehr viel Luft nach oben. Zur Begleitung der Bilder benötigen wir eine fachlich souveräne Berichterstattung, die die Spannung des sportlichen Geschehens und seine durchaus komplexen Hintergründe allgemeinverständlich vermittelt, ohne sich in emotional hochstilisierten Kinkerlitzchen zu verlieren!
Was mich betrifft, so bin ich mit diesen Themen nur am Rande befasst und kümmere mich überwiegend um die auch in schwierigen Zeiten nötige Arbeit an einzelnen Sachthemen. Dazu gehören in meinem Fall die Themen Finanzen und IT, an denen ich in den zuständigen Fachausschüssen beim Verband intensiv arbeite. Außerdem bin ich Mitglied der technischen Kommission und der Zuchtkommission.
In den Sozialen Medien gehen Sie teilweise heftigen Diskussionen nicht aus dem Weg und werden teilweise kritisch gesehen. Was entgegnen Sie Kritikern und wie gehen Sie mit Andersdenkenden um? Miteinander oder Gegeneinander, was bevorzugen Sie?
Matthias Tamrat: Ganz sicher bin ich kein Leisetreter. Soweit meine Zeit es erlaubt und ich Interesse bzw. Bedarf sehe, äußere ich mich gerne zu öffentlich diskutierten Themen und versuche wichtige Aspekte unserer Verbandsarbeit differenziert in die interessierte Öffentlichkeit zu tragen. Dabei bin ich selbst ebenso Kritiker wie auch Gegenstand von Kritik – diese sachliche Auseinandersetzung ist Ziel der Übung und insofern nicht zu beanstanden.
Teilweise gibt es, wie Sie richtig bemerken, auch heftige Diskussionen, und ich gehe diesen nicht immer aus dem Weg. Es ist dabei nicht leicht, die sachliche Ebene im Vordergrund zu halten und persönliche Attacken zu vermeiden. Ich werde gelegentlich attackiert und attackiere bisweilen auch selber, ob und ggf. wo das zu weit geht, kann man eigentlich nur bezogen auf jeden Einzelfall erörtern.
Wie dem auch sei bin ich jedenfalls der Ansicht, dass es gut und richtig ist, wenn sich gewählte Funktionäre – auch mit ihren persönlichen Einschätzungen – der öffentlichen Debatte stellen. Weniger gut ist es, wenn gewählte Funktionäre oder andere exponierte Personen des Rennsports ihre Wut auf Staat und Regierung durch mehr oder weniger ungefiltertes Teilen von Inhalten rechtspopulistischer Seiten zum Ausdruck bringen. Auch wenn damit kein justiziables Vergehen vorliegt, muss ich mich hier als Mann der klaren Worte sehr deutlich distanzieren.
Bei allen bestehenden Meinungsverschiedenheiten ist der kritische Dialog aber vor allem auch die Basis jedes aufrichtigen Miteinanders, und ein solches brauchen wir in der aktuellen, sehr schwierigen Lage unseres Sports unbedingt!
Gerade in der IT-Branche, in der Sie tätig sind, gibt es zahlreiche vermögende Menschen, die sich Rennpferde leisten könnten. Wird in Ihrem Umfeld der Rennsport in Deutschland überhaupt noch wahrgenommen, und falls ja, wie?
Matthias Tamrat: Ich bin Angestellter in einem sehr großen Unternehmen. Die Bezahlung ist in meiner Branche überdurchschnittlich, trotzdem hat man es nur selten mit vermögenden Menschen zu tun. Gerade in der IT haben viele Beschäftigte ein gehobenes Einkommen erreicht, damit jedoch kein Vermögen. Um ohne nennenswertes Vermögen auf Dauer ein ein bis zwei Rennpferde halten zu können, muss man entweder sein übriges Leben deutlich einschränken oder man benötigt ein Jahresgehalt von mindestens 200.000 besser 300.000 Euro. Solche Gehälter sind jedoch auch in meiner Branche die Ausnahme und mit deren Empfängern habe ich in meiner täglichen Arbeit kaum zu tun.
Ansonsten kann ich sagen, dass mein berufliches Umfeld sehr stark von aktuellen gesellschaftlichen Strömungen geprägt ist und Themen wie Diversität, Inklusion, soziale Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Umweltschutz, Artenschutz, auch Tierschutz eine wichtige Rolle spielen. Der Rennsport genießt, wie überall in der breiten Öffentlichkeit, kaum Aufmerksamkeit, allerdings wird meinem Engagement durchaus mit Interesse und Wohlwollen begegnet, und ich kann immer mal wieder jemanden aus dem Kollegenkreis für einen Rennbahnbesuch begeistern. Als Einzelbesitzer kommt vermutlich niemand aus diesem Personenkreis in Betracht. Lars Wilhelm Baumgarten und Nadine Siepmann haben hier mit ihren seriös und professionell, gleichzeitig aber mit viel Herzblut und mit einem zeitgemäßen Spirit geführten Besitzergemeinschaften erstmals ein Angebot geschaffen, mit dem sich diese Zielgruppe möglicherweise ansprechen lässt.
„Das Handicap ist eine wesentliche strukturbildende Säule“
Sie gelten als Experte für Handicapping. Was reizt Sie an diesem Thema?
Matthias Tamrat: Die amtlichen Experten sind Harald Siemen und der leider kürzlich verstorbene Christoph von Gumppenberg, den ich persönlich sehr geschätzt habe und der dem Sport sehr fehlen wird. Mit beiden stand bzw. stehe ich in regelmäßigem Austausch.
Das Handicap ist, eine wesentliche strukturbildende Säule unseres Sports, vergleichbar etwa den Tabellen der Fußball-Ligen. Es bietet zum einen eine recht objektive Einschätzung der Leistung eines Pferdes, die insbesondere für die Zucht unverzichtbar ist, zum anderen ermöglicht es die Durchführung der Ausgleichsrennen, die das Rückrat unseres Rennbetriebs und insbesondere der Pferdewette bilden.
Ich habe Freude an Mathematik und an der Anwendung mathematischer Prinzipien auf die Wirklichkeit. Insofern reizt mich natürlich die Beschäftigung mit dem Handicap-System. Im Unterschied zu den Fußballtabellen funktioniert dieses nicht von alleine, sondern bedarf immer wieder der statistischen Überprüfung und der Durchführung kleinerer oder größerer Korrekturen wie z.B. der Anhebung der Handicaps und Mindestmarken in den letzten beiden Jahren um insgesamt 6 Kilo. Derartige Maßnahmen müssen sorgfältig geplant und auch den Beteiligten erläutert werden. Dabei bin ich, wenn man so will, in meinem Element.
Wo steht der deutsche Rennsport und die deutsche Zucht im Jahr 2030? Welches Szenario können Sie sich vorstellen?
Matthias Tamrat: Ein Sportverband mitsamt aller Beteiligten besitzt relativ viel träge Masse, das gilt nicht nur für den Galopprennsport. Insofern sind sechs Jahre auch in unruhigem Fahrwasser keine lange Zeit, und ich bin Realist genug, bis 2030 weder grundlegende Änderungen noch eine Wunderheilung zu erwarten – allerdings auch keinen Untergang. Was ich erhoffe, ist, dass es uns gelingt, die Zahlen auf dem aktuellen Niveau zu konsolidieren und dabei die nach und nach scheidende ältere Generation durch ebenso engagierte jüngere Züchter und Besitzer zu ersetzen. Weiterhin hoffe ich, dass wir die Konsolidierung der Verbandsfinanzen fortsetzen und weitere Kostensteigerungen in einem vertretbaren Rahmen halten können. Schließlich wünsche ich mir, dass es uns gelingt, das öffentliche Erscheinungsbild des Sports deutlich zu verbessern. Das ungebrochene, wenn nicht sogar steigende Zuschauerinteresse vor Ort auf den Rennbahnen gibt mir die Hoffnung, dass diese bescheidenen Ziele erreichbar sind.
Die Zucht betreffend hoffe ich, dass wir zumindest den größeren Teil der kleinen Züchter halten und die großen Züchter im Lande halten können. Dazu bedarf es einer deutlichen Gesundung des Jährlingsmarktes, hier speziell des sogenannten Mittelmarktes. Dies wird nur gelingen, wenn wir die Qualität im Durchschnitt gegenüber dem bereits vergleichsweise hohen Niveau weiter verbessern. Dazu ist es insbesondere unerlässlich‚ dass wir ausreichend ‚Stallion-Power‘ im Land halten. Diese Ziele sind sehr ambitioniert, und meine Zuversicht ist offengestanden nur mäßig.