Das Positiv-Experiment
Es gibt Tages, da verstehe ich den Pferdesport nicht; und davon gibt es viele. Der Neid. Der Hass. Das ewige Gezanke. Und wenn etwas nicht gut läuft, ist in 95% der Fälle das Pferd (ggf. Noch Hufschmied, Tierarzt oder Sattler) und in 5 % der Fälle der Besitzer Schuld.
Reitsportler schimpfen über die böse Peitsche im Rennsport, während der teils fortlaufende Gertengebrauch in der Dressur (aus gegebenem Anlass das Stichwort “anpassagieren”) oder der energische Gertengebrauch in Springen oder Vielseitigkeit (zum Beispiel bei einer Verweigerung) völlig normal ist. Rennsportler schimpfen auf das (teils und versehentliche) Plumpsen von Springreitern nach dem Hindernis, während einige Jockeys eben jenes Plumpsen im Endkampf gezielt einsetzen. Freizeitreiter verurteilen Sportreiter für ihre Ambitionen, Sportreiter die Freizeitreiter für ihre übergewichtigen und unterbemuskelten Wegbegleiter. Und wehe, die Farbe der Satteldecke passt nicht zum restlichen Outfit.
Während Corona die allgegenwärtigen Aggressionen im Reitsport dieser Tage auf ein neues Niveau treibt (in einstmals spannenden Foren liest man gefühlt nur noch “Mimimi”; ja, auch in Galopper Forum), fiel mir ein spannendes Buch in die Hände:
Positiv denken – besser reiten
Autorin Jane Savoie, ehemalige Reiterin des amerikanischen Olympia-Dressurteams, rollt auf gut 200 Seiten ihren Ansatz aus, dass über Erfolg und Misserfolg im Pferdesport zu 15 Prozent das Können und zu 85 Prozent die innere Einstellung entscheiden. Schon beim Lesen des Klappentextes denke ich spontan an eine Welt, in der sich jeder Pferdemensch positiv und motiviert und sein Pferd und sich selber kümmert. Und die Pferdebesitzer in der Nachbarbox oder gar im Nachbarstall in Frieden lässt. Eine Welt, in der Reiter die Fehler erst bei sich selbst, dann bei ihrer Umwelt und zuletzt beim Pferd suchen. Ein seltsamer Gedanke; als würde die Reiterwelt plötzlich ihre Pferdenamen tanzen. Oder die #Jerusalemachallenge. … doch ich lasse mich auf das Positiv-Experiment ein.
Lektion 1: Ziele sind der Schlüssel zum Erfolg
Die Autorin empfiehlt, Kurzzeit- und Langzeit-Ziele festzulegen; am besten positiv formuliert. Die Ziele sollen schriftlich festgehalten werden; am besten in Form einer Straßenkarte mit Zwischenstopps und einem Endziel. Ich weiß nicht, wie es euch/Ihnen geht: Aber an der Stelle komme ich bereits ins Wanken. Ich bin eine Amateur-Vielseitigkeitsreiterin. Mein Pferd ist jung, hat gesundheitliche Baustellen, eine hochadelige Abstammung und einige hoch erfolgreiche Cracks in der nahen Verwandtschaft. Was genau ist da ein realistisches, langfristiges und vor allem konkretes Ziel?
Mein persönliches Ziel: Ich möchte Duke disziplinübergreifend so gut und so weit ausbilden, wie es ohne Druck, Stress, Schmerz oder gar gesundheitliche Folgeschäden möglich ist.
Ein lockerer Canter auf der Galoppbahn der Olympia Reitanlage München Riem
Lektion 2: Gelassenheit
… das Kapitel habe ich ehrlich gesagt übersprungen. Gelassenheit haben mich meine Vollblüter schon vor vielen Jahren gelernt. Ehe ich an ein Pferd herantrete, atme ich tief durch und drücke meinen inneren “Gelassen”-Knopf.
An den wenigen Tagen im Jahr, wo ich die Anspannung partout nicht loswerde, komme ich nicht in die Nähe meiner Pferde. Geduld, Ruhe und Beherrschung sind in meinen Augen die wichtigsten Attribute im Umgang mit Tieren; ganz besonders mit 600 Kilo schweren Rennpferden mit kurzem Gaspedal und langem Bremsweg.
Lektion 3: Einfühlungsvermögen
Einfühlungsvermögen ist eine Gabe, die im Pferdesport rar gesät ist. Egal ob das eigene Pferd oder der Reiter-Kollege einen schlechten Tag hat: Die Menschen fragen selten nach dem “Warum?”, sondern fangen gleich an zu schimpfen. Konkurrenzlos ist an dieser Front immer noch das Diskussionsniveau in Facebook-Gruppen: Reiterin A präsentiert stolz die Lernkurve ihres vor dem verhungern geretteten, senkrückigen Tierschutz-Pferdes und Reiterin B gibt sofort eine verbale Ohrfeige, weil die 12-jährige Tochter von Reiterin A nicht so longiert, wie Pferdeguru Hans-Joachim das im letzten Youtube-Video erklärt hat. Tierquäler! Inkompetent!! Möge doch jemand das arme Pferd retten!!!
Einfühlungsvermögen gegenüber dem Pferd ist letztendlich mit der Frage verbunden: Hat mein Pferd Freude an unserer gemeinsamen Zeit? Bzw. wie kann ich dafür sorgen, dass er/ sie zufriedener ist? Ingrid Klimke hat in den Sozialen Medien den Hashtag #ReitezudeinerFreude geprägt, doch die wenigsten Reiter fragen sich, ob auch das Pferd Freude hat. Wer die Stresssituationen seines Pferdes sieht und versteht, kann besser darauf eingehen und sie langfristig abbauen, so Savoie.
Mein persönlicher Vorsatz: Ich urteile nicht über Momentaufnahmen anderer Reiter und Pferde; besonders am heimatlichen Bildschirm. Ich beobachte, frage und lerne.
Im Umgang mit Duke muss ich eher seine körperliche Verfassung erfühlen. Mental ist er ein unheimlich fröhliches, motiviertes und leistungswilliges Pferd. Noch nie gab er mir bei irgendeiner Aufgabe das Gefühl, dass er nicht will oder nicht kann. Es gibt nur das Gefühl, dass er nicht mehr kann – wie letzte Woche nach 2 Seitwärts-Tritten – und muss ich ganz flott zum Ende zu kommen. Er wird gerne gefordert, aber auf Überforderung reagiert er sehr schnell und sensibel. Mit 5 Jahren, 175 cm und einer Amateurin im Sattel finde ich solche Grenzen aber legititim. Wir tasten uns langsam vorwärts.
Showjumping – Springtraining mit Ex Galopper Duke
Bescheidenheit und Demut vs. Tierschutz
Die im Buch genannten Aspekte Bescheidenheit und Demut finde ich für einen Reiter sehr wichtig. Schwierig ist die Grenze von Bescheidenheit zum Tierschutz. Die Meinung zu einem schlechten Tag eines anderen Pferdes oder Reiters muss man nicht brühwarm hinausposaunen. Viel zu selten macht die Pferdewelt den Mund beim Thema Tierschutz auf. Das gilt auch im Kleinen, wenn ein Freizeitpferd viel zu fett ist oder der scheintote Rentner nochmal für einen lustigen Sonntagsausritt aus dem Stall
gezerrt wird. Solche Dinge spreche ich inzwischen nach Möglichkeit offen, wenn auch nicht öffentlich an.
Lektion 4: Entspannen
Regelmäßig entspannen: Das finde ich für meine Pferde ebenso wichtig, wie ich es selbst benötige (PR Beraterin Anfang 30, kurz vor Corona Selbstständig gemacht). Kurioserweise setzen viele Reiter, auch im Vollblut-Umfeld, entspannen mit Nichts-Tun gleich.
Natürlich findet der 5jährige Duke die Koppel entspannend; doch bei den aktuellen Wetterkapriolen kann ich das Sensibelchen nicht ewig raus stellen. Essen findet er entspannend; viel essen. Und Galoppieren. Kein wildes Rennen (das wäre ja anstrengend); am liebsten mag er einen frischen Canter. Locker in meine Hand; gerade ein bisschen schneller, als es die Alte oben im Sattel gerne hätte. Eine leichte Biegung darf die Strecke haben, aber bitte keine engen Kurven. Wald mag er lieber, als Felder. Der Boden sollte weich sein, aber nicht schlammig.
Dieses lockere, gleichmäßige Dahinplätschern eines Galopps: Das ist für Duke Entspannung pur
Das Schwierigste in der Positiv-Challenge? Nicht verunsichern lassen
Wie bleibe ich nun positiv? Trotz fast 20 Jahren im Reitsport finde ich es am schwierigsten, sich von den Banden-Experten nicht verunsichern zu lassen. Ein sehr junges Gesetz des Reitsports besagt: Jeder andere weiß am besten, was gut für dein Pferd ist. Und fast jeder teilt dir diese Meinung mit; ob du sie nun hören möchtest, oder nicht.
Mein Vorsatz: Ich lese viel, höre zu und frage erfahrene Experten um Rat.
… denn besser geht immer. Und nicht weniger möchte ich für meine Pferde.