Nichts hört man ja häufiger, als Reiter, die behaupten, man müsse besonders fein reiten für ein Vollblut. Die sind ja sensibel. Sensibel ist ein Wort, das eher negativ behaftet ist. Sprintet gleich los, wenn es sich erschreckt, ist ständig krank, braucht ne Decke, muss man hätscheln wie eine Topfpflanze. Ungefähr so ist „sensibel“ bei Reitern definiert, und das ist eindeutig negativ. Wer hat darauf schon Bock? Dieses „sensibel“ labern ist garantiert auch einer der Gründe für den schlechten Ruf des Vollbluts. Auch den der Rennpferde. Denn wer will schon ein ständig krankes Pferd, das sich bei jedem Pups erschreckt, nicht im Offenstall stehen kann und eine Decke braucht?
Dabei ist das Vollblut ein Pferd wie alle anderen. Manche kann man in Robusthaltung nach Sibirien stellen und die finden das prima da und brauchen kein Deckchen, während sie mit ihren Kumpels die Weiten der russischen Tundra erkunden. Mein Pferd hat nie eine Decke an. Außer mal der Abschwitzdecke. Weil er im Winter aussieht wie Samson aus der Sesamstraße und ich mir eher überlege, ob ich ihm mal einen Jagdschnitt verpasse, damit ich nicht dreihundert Stunden warten muss, bis der wieder trocken wird. Auch sonst ist das Vollblut an sich nicht an eine Haltungsform gebunden, nur weil es ein Vollblut ist. Es gibt Rennpferde, die möchten ihre Ruhe, andere sind gesellig und können sehr wohl permanent ohne Stress in der Herde stehen. So wie Shetland Ponys, Warmblüter, oder Freiberger.
Dann: Die sind ja so sensibel – die haben ständig was. Natürlich kann man mein Pferd jetzt nicht als Referenz angeben, weil es EIN Pferd ist, aber die Pferde, die ich so aus dem Rennstall kenne (also zur aktiven Zeit), sowie die Pferde von Bekannten – die sind jetzt nicht häufiger krank als andere Pferde. Eben normal. Manche sind Montagsmodell (gibt es auch bei „Robustrassen“), manche haben nie was, andere lavieren mit immer denselben Erkrankungen (Kolik). Aber sonst ist es halt nicht Schlimmer als sonst wo. Und hat auch immer etwas mit Haltung und Nutzung zu tun, ob ein Pferd zu Erkrankungen neigt oder nicht (natürlich nicht nur – aber eben auch). Daher … nein, sensibler in Bezug auf Haltung und Erkrankungen kann man über Vollblüter nicht pauschal sagen.
Aber sensibel im Umgang? Obwohl … hach, Mist. Ist einfach auch nicht viel dran. Manch ein Vollblut ist ein fauler Stoffel, den auch der Anfänger reiten kann, ohne dass er ihm was krumm nimmt – manches nicht. Wahr ist vielleicht nur, dass das Vollblut, vor allem dann, wenn es im Renntraining war, sich SEHR wenig Bullshit bieten lässt. Mit vorne ziehen und hinten stechen kann das überhaupt nichts anfangen, ist empört und wird sich definitiv melden. Weil es diesen Umgang nicht gewohnt ist. Wohingegen manch ein Pferd leider mit solcher Reiterei aufwächst und sich nicht dagegen wehrt, weil es das gar nicht anders kennt. Ist aber keine Rassefrage sondern mehr eine Ausbildungsfrage. Und die findet man nicht im Rennstall, weil sie halt keinerlei Sinn ergibt für diese Art von Reiterei.
Tja … was nun? Es regt sich schneller auf? Sagen wir: Das Vollblut regt sich etwas anders auf. Sehr schnell (wenn es einen Grund findet – den sucht es aber nicht zwingend) und es reagiert auch entsprechend schneller als das schwere Warmblut, das gerade noch verarbeiten und koordinieren muss. So von wegen Flucht, Aufregen und alles zusammen. Das Vollblut kann das besser koordinieren, weil seine Leitung nicht so lang ist. Da ist zwischen Aufregen und abdrehen und davonbocken halt keine Minute Zeit zwischen. Deswegen braucht das Vollblut hin und wieder einen reaktionsschnellen Reiter, der adäquat mit der Situation umgehen kann. Und sei es nur die Redaktion: „LASS DAS!“
Also wenn euch das nächste Mal jemand sagt: „Kauf bloß kein Vollblut, die sind sensibel“ – dann überlegt mal, wie viele nicht Vollblüter ihr kennt, die wirklich „sensibel“ sind. Und dann vergleicht das mal mit dem Pferd, das da vor euch steht.
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