In langen Schritten trabt ein hübscher Brauner durch die Bahn: locker federnd, feine Anlehnung, fleißig durchtretende Hinterhand. Nach einem Handwechsel sieht das Bild ganz anders aus: immer wieder zieht er sich nach oben oder unten aus der Anlehnung, immer wieder stockt der Takt und gerade bei engeren Wendungen kommt die Hinterhand nicht richtig mit. „Das ist seine schwache Hand“, ruft seine Reiterin sicherheitshalber in Richtung der ewig kritischen Bandenexperten.
„Die schwache Hand“, „das schiefe Pferd“ – Sorgen, die selbst Freizeitreiter im täglichen Training beschäftigen und lang und breit auf den Stallgassen diskutiert werden. Experten schreiben ellenlange Abhandlungen über „die natürliche Schiefe des Pferdes“ und was man dagegen tun kann. Doch das Problem bei sich selbst suchen? An sich selbst arbeiten? Auf die Idee kommen die wenigsten Reiter. Dabei ist „Schiefe“ unter Menschen nicht weniger weit verbreitet, als unter Pferden.
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Gründe gibt es viele: angeborene wie im Laufe eines langen und bewegungsarmen Büroalltags an- (oder eher ab-) trainierte. Auch Stürze, unglückliches Stolpern oder selbst ausrutschen auf Eis können zu Blockaden und damit zu einem schiefen Sitz auf dem Pferd führen, berichtet Heilpraktikerin und Pferde-Physiotherapeutin Melissa Lohner.
„Auch wer seine Muskeln oder Gelenke dauerhaft einseitig belastet, sitzt mit der Zeit schief auf dem Pferd. Zum Beispiel Frauen, die beim Sitzen ständig die Beine überschlagen. Dadurch wird auf der betroffenen Seite der Hüftgelenksspalt größer. Beim Aufstehen verhindert die Muskulatur, dass der Oberschenkel in die Normalposition im Hüftgelenk zurückgleitet.“ Auf Dauer trainiert man sich so eine Beinlängendifferenz an. Doch die Gründe können noch trivialer sein. Zum Beispiel Männer, die lange sitzend ein schweres Portemonnaie in der Hosentasche tragen. Da sich ein schiefer Reiter ungleichmäßig auf sein Pferd einwirkt – umgekehrt natürlich genauso – behandelt Lohner stets Pferd-Reiter-Paare analog. „Es macht wenig Sinn sich auf ein behandeltes Pferd zu setzen, wenn der Reiter selbst schief ist.“ Umgekehrt gilt das natürlich auch: ein schiefes Pferd wirkt sich auf Dauer auf den Reiter aus.
Fehlstellungen des Beckens, Hüfterkrankungen oder auch Wirbelsäulenfehlbildungen lassen sich oftmals schon bei einem kritischen Blick in den Spiegel feststellen. Hierfür muss man sich nur möglichst gerade – idealerweise in Unterwäsche – hinstellen. Ist das Becken bzw. sind die vorderen Beckendornen (rechts und links unterhalb des Bauchnabels) gerade? Die Schultern? Die Wirbelsäule? Auch unterschiedlich lange Beine können ein Symptom sein, ebenso wie ein Schiefstand der Füße oder Sprunggelenke. Beides macht sich u.a. in Form schief bzw. ungleichmäßig abgenutzter Schuhsohlen bemerkbar; „aufmerksame Frauen bemerken es manchmal anhand ungleichmäßig fallender Hosenbeine“, ergänzt Lohner. Auch Reiter mit einem Faible für unterschiedlich lange Steigbügel dürfen getrost eine Schiefstellung vermuten.
„Angeborene Fehlstellungen kompensiert der Körper mit der Zeit“, so Beate Heuwinkel, Fachärztin für Orthopädie und selbst aktive Vielseitigkeitsreiterin. „Deutlich problematischer sind Fehlstellungen nach Verletzungen oder bei fehlender muskulärer Koordination.“ Menschen, die sich nur wenig sportlich betätigen, fehlen oftmals Muskeln im Bereich des unteren Rückens und des Beckens; der für einen guten Reitersitz essentiellen Mittelpositur. „Auch Verspannungen kommen in diesem Bereich häufig vor“, so Lohner. Egal ob zu schwach oder zu fest: in beiden Fällen kann der Reiter nicht mehr richtig mit der Bewegung des Pferdes mitschwingen. Das Ergebnis fällt einem kritischen Zuschauer in der Regel auf: Sitzt der Reiter auf der Geraden gerade auf dem Pferd? Schwingt er gleichmäßig mit der Bewegung des Pferdes mit? Bleibt das Becken auch in Wendungen stabil?
Falls die Antwort auf eine dieser Fragen „Nein“ lautet, sollte man mit der Ursachenforschung beginnen – idealerweise mit Hilfe von Experten. Denn neben Pferd und Reiter kann es noch eine dritte Ursache für Schiefe geben: das Bindeglied zwischen beiden. „Darum frage ich meine Patienten: passt der Sattel wirklich beiden?“, so Lohner. Ob der Sattel dem Pferd passt, würde lang und gründlich beleuchtet; die Bedürfnisse speziell der Reiterin werden hingegen nur selten geprüft. „Frauen haben beispielsweise oft längere Oberschenkel als Männer. Entsprechend brauchen sie Sättel, bei denen die Sturzfedern etwas weiter hinten angebracht sind. Sonst rutschen sie in den Stuhlsitz.“
Doch ist ein passender Sattel kein Erfolgsrezept für die Ewigkeit; erst recht nicht, wenn Pferd oder Reiter schief sind. Neuere Sattelgenerationen lassen sich zwar teils mit veränderbaren Kopfeisen und austauschbaren Kissen leicht an muskuläre Veränderungen des Pferdes anpassen: bei einem schiefen Reiter – oder auch einem schiefen Pferd – sollte ein Experte die ungleichmäßige Abnutzung in regelmäßigen Abständen wieder anpassen.
Während angeboren schiefe Reiter ein klarer Fall für eine professionelle Behandlung sind, gibt es für „antrainiert“ schiefe Reiter auch eine Vielzahl an Möglichkeiten, selbstständig an ihren Problemzonen arbeiten. Sofern sie sie identifiziert haben. „Wichtig ist ein gleichmäßiger Muskelaufbau im Bereich der Mittelpositur“, so Orthopädin Heuwinkel. „Pilates, schwimmen oder auch isometrische Wirbelsäulenübungen sind hier besonders hilfreich.“ Büroangestellten empfiehlt sie obendrein den Griff zu wackelnden Sitzkissen oder Hockern im Büro – oder gar einem Wiederbeleben des einstmals beliebten Gymnastikballs. Denn beim Sitzen auf beweglichen Oberflächen muss die Rückenmuskulatur permanent arbeiten: ein äußerst zeitsparendes Sitztraining für Reiter.
Menschen, die schwere körperliche Arbeit verrichten, sollten auf eine gleichmäßige Belastung achten. Dies gilt natürlich auch für die Stallarbeit: beim Misten, Kehren oder Eimer schleppen regelmäßig die Seite wechseln. Auch im Sattel sind die Trainingsmöglichkeiten alles andere als begrenzt. Alle Übungen, die Gleichgewicht und Koordination verbessern, kommen Reitern zu Gute. Besonders jenen, die schief sitzen. „Eine längere Dressureinheit ohne Bügel wirkt sich massiv auf den Sitz aus“, so Heuwinkel.
Regelmäßige Sitzschulen an der Longe seien ebenfalls effektiv; bei den meisten Reitern jedoch unbeliebt. Während diese Trainingsform jedoch beispielsweise in der Spanischen Hofreitschule ein fester Programmpunkt auf jedem Trainingsplan ist, fürchten fortgeschrittene Amateure hier um ihren Ruf. Zum Glück gibt es für Reiter auf dem Lande eine sehr viel angenehmere Alternative: im leichten Sitz durch unebenes Gelände reiten.
Die etwas kürzer geschnallten Bügel lockern die Muskulatur in der Mittelpositur Alles in allem ist Schiefe ein Thema, das alle Reiter angeht. Die möglichen Ursachen sind so vielfältig, das man im Falle einer auffälligen Schiefe auf jeden Fall einen Experten zur Rate ziehen sollte. Doch auch ohne Auffälligkeiten sollte man ein ausgewogenes Programm an Ausgleichübungen auf dem Trainingsplan haben. Dem Pferd zuliebe.