Der große schwarze Wallach in Box Nummer 23 kaut zufrieden an seinem Heu, das seine Pflegerin ihm noch in einer Ecke der Box aufgeschüttet hat, bevor sie sich liebevoll von ihm verabschiedet hat. „Bis gleich, Schwarzer!“, hat sie ihm noch zugerufen und auch wenn er nicht alles versteht, dann weiß er doch, dass mit „Schwarzer“ irgendwie er gemeint ist.
In der langen Reihe der Boxen setzt langsam geschäftiges Treiben ein. Eimer klirren, Hufe klappern auf dem Asphalt, Pferde werden ausgeladen, die Menschen rufen sich mal laut und mal leise Begrüßungen zu. Neugierig wirft der Schwarze einen Blick über die Halbtür seiner Box und nimmt einen tiefen Atemzug der kristallklaren Winterluft. Als er prustend ausatmet, bilden sich kleine Nebelwolken vor seinen Nüstern. Die Dämmerung ist bereits der Dunkelheit gewichen und die ersten Sterne stehen an dem pechschwarzen Himmel.
Die Augen des Rappens ruhen auf den entfernten Lichtern hinter den Dächern der Stallungen, die noch einen Teil des Abendhimmels erhellen. Er spitzt die Ohren, denn von dort hört er bereits das knacken der alten Lautsprecheranlage und das Brummen des Traktors, der noch einmal seine Runden zieht, um die Bahn perfekt für die Pferde vorzubereiten. Die Luft ist bereits erfüllt voller Vorfreude und Leichtigkeit, der Schwarze spürt das, die Anspannung der Menschen, die beschäftigt an seiner Box vorbeieilen.
Die meisten sind in freudiger Erwartung, andere sind angespannt und aufgeregt. Er fragt sich, warum die Menschen an den Renntagen immer so nervös sind, schließlich war er vielleicht beim ersten Mal aufgeregt, weil er nicht wusste, was auf ihn zukommt, aber heute nimmt er jedes Rennen ganz gelassen hin. Der Schwarze weiß, was seine Menschen sich erhoffen und er wird wie jedes Mal sein Bestes geben. Interessiert beobachtet er dennoch das Treiben vor seiner Boxenreihe, jetzt gleicht der Gastboxenbereich bereits einem wuselnden Ameisenhaufen. Die ersten Pferde werden aus den Boxen herausgeführt und die Pfleger begutachten sie noch einmal von allen Seiten. Hier und da wird noch eine Trense neu verschnappt oder ein Strohhalm aus den langen Schweifhaaren gebürstet. Von weitem hört der Rappe auf einmal die Stimme seiner Pflegerin, die sich der Box nähert und er weiß, dass es nun bald auch für ihn losgeht.
Sorgfältig legt sie alles bereit: Trense, Decke, Schweißmesser. Alles hat seinen Platz und jeder Handgriff ist Teil eines eingespielten Rituals. Der Schwarze weiß, dass er, obwohl sein Fell seidig glänzt, noch einmal bis aufs Gründlichste geputzt wird, danach werden die Hufe ausgekratzt und eingefettet. Sie lässt sich damit immer sehr viel Zeit, um alles so genau wie nur möglich zu machen. Zu genau, findet der Schwarze und scharrt mit den Hufen. So langsam könnte es nun doch losgehen, findet er. Endlich greift sie nach der Trense und schnallt sie sorgfältig. Als sie den Führstrick befestigt, kann er es kaum noch abwarten.
Freudig macht er die ersten Schritte raus aus der Box und in Richtung Führring. Nun ist es nicht mehr lange und der Schwarze schüttelt ungeduldig den Knopf. Er kennt den Weg zur Rennbahn schon in und auswendig. Es ist für ihn bereits der dritte oder vierte Winter, genau weiß er es nicht mehr. Er spürt das Herz seiner Pflegerin aufgeregt klopfen und versteht nicht, warum sie nach all den Fahrten und etlichen Rennen immer noch so aufgebracht ist.
Im Führring angekommen, sucht er die Menschenmenge nach seinem Trainer ab, der wie immer bereits mit dem Sattel an der Ecke der Sattelboxen steht, er hat den Schwarzen noch nie warten lassen. Während er mit sicheren Handgriffen den Sattelgurt festzieht, analysiert er mit der Pflegerin die heutigen Kontrahenten. Dem Schwarzen ist das einerlei, die anderen Pferde beobachtet er flüchtig. Er wird sowieso sein Bestes geben, manchmal reicht das und manchmal eben nicht. Im Rennsport ist das so. Es gibt gute und es gibt schlechte Tage. Im Rennen kann man sowieso nichts Vorhersagen, das weiß der Schwarze.
Endlich klingelt die Glocke zum Aufsitzen der Jockeys. Den Jungen, der dort in den Farben seines Trainers auf ihn zukommt, hat er noch nie gesehen. Er ist so schmächtig, dass selbst das schmal geschnittene Renndress an ihm noch wie ein Nachthemd wirkt. Der Schwarze spürt die Nervosität des Jungen, als dieser die Zügel aufnimmt und sich auf seinen Rücken schwingt. Er ist sich sicher, dass der Junge heute zum ersten Mal beim Rennen dabei ist. Liebevoll streichelt er aber über die Mähne des Pferdes, als er sich im Sattel zurechtgesetzt hat. Der Schwarze bleibt ganz ruhig und versucht, dem Jungen ein sicheres Gefühl zu geben. Egal was passiert, er würde sie sowieso beide sicher wieder nach Hause bringen.
Endlich geht es raus auf die Bahn, die Hufe der Pferde machen ein dumpfes Geräusch, als sie über die Holzplanken geführt werden, die den Eingang der Sandbahn markieren. Die Pflegerin wünscht dem Schwarzen und dem Jungen gleichfalls Hals und Bein und hakt den Führstrick aus. Mit einem mächtigen Satz galoppiert er los und der Junge stellt sich in den Steigbügeln auf. Der Schwarze merkt, dass der Junge die Zügel mit ganz feiner Hand führt, das mag er. Voller Vorfreude setzt er mit raumgreifenden Springen seinen Weg zur Startstelle fort.
Dort angekommen, kreisen die Pferde vor der Startmaschine. Einige von ihnen sind aufgeregt und tänzeln nervös, aber nicht der Schwarze. Er weiß, dass er seine Kraft besser einsparen sollte. Der Starthelfer nimmt ihn am Kopf und führt ihn in sein Abteil. Der Junge streichelt immer wieder seinen Hals, wahrscheinlich mehr um sich selbst die Aufregung zu nehmen. Zielstrebig folgt der Schwarze dem Mann in die Startmaschine und wartet voller Selbstvertrauen, bis alle anderen Pferde ebenfalls ihre Plätze bezogen haben. Endlich ertönt die Startglocke, und er springt ab.
Das Feld formiert sich langsam, aber er behält den Überblick. Der Junge hält die Hände ruhig auf dem Hals und vertraut ihm völlig. Eng aneinander, Körper am Körper, fliegt der Pulk dahin. Hier und da hört man ein Klirren zweier sich berührender Bügel. Der Schwarze galoppiert gleichmäßig. Jeder Galoppsprung voller Kraft und doch so anmutig.
Er wartet. Er weiß ganz genau, wann es Zeit ist, alles zu geben. Der Junge hält ihn etwas auf einer äußeren Spur, nicht zu weit hinter der Spitze. Der Wallach mag es nicht, wenn er den Sand abbekommt. Sie nähern sich dem letzten Bogen. Einige Kontrahenten müssen schon schwer arbeiten, aber der Schwarze fliegt unbeirrt dahin. Der Junge gibt ihm den Kopf freu, als sie in die Gerade einbiegen. Immer schneller und schneller rasen die beiden dahin. Sie verschmelzen zu einer Einheit. Der Schwarze überholt den Führenden schon an der 200 Meter Marke. Keiner kann ihn heute mehr einholen. Aus dem Augenwinkel sieht er seine Pflegerin am Zielpfosten jubeln. Heute ist ein guter Tag.