Waldgeist, Wurftaubes Vermächtnis

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Turffans auf der ganzen Welt blickten am vergangenen Sonntag mit klopfendem Herzen und schweißnassen Händen nach Paris. Einmal im Jahr, wenn der Prix de l’Arc de Triomphe gelaufen wird, steht selbst in der französischen Hauptstadt die Zeit still. Die Ausnahmestute Enable hatte als erstes Pferd in der Geschichte Longchamps die Chance, das Einzigartige zu schaffen und dieses Rennen der Rennen zum dritten Mal in Folge gewinnen. Als die Pferde dem Zielpfosten entgegenflogen, sah alles nach einem historischen Moment aus. Enable würde den Fluch der sieben Doppelsieger brechen und sich unsterblich machen.

Zentimeter vor der Linie rauschte auf der Außenseite allerdings Waldgeist heran, kämpfte um jeden Millimeter und mit jeder Faser seines Körpers. Schließlich entthront er die Queen und verweist sie auf den zweiten Platz. Das Rennen ist Geschichte, Enables Niederlage ist Waldgeists unglaublicher Triumph, den fast niemand auf der Karte hatte.

Waldgeist siegt unter Pierre-Charles Boudot im L‘ Arc de Triomphe 06.10.2019 in Longchamp.

Für die so krisenerprobten Rennsportfans in Deutschland bedeutet dieser Sieg sogar noch viel mehr: Es war auch der Triumphzug eines deutschen Pferdes. Wie aber kann das sein, wurde Waldgeist doch in England geboren und nun in Frankreich trainiert? Waldgeist selbst gehört zu 75 Prozent dem Gestüt Ammerland, betrat aber nur einmal deutschen Boden und zwar, als er 2017 Vierter im Großen Preis von Bayern wurde. Die restlichen 25 Prozent von Waldgeist gehören Newsells Park Stud in England, dennoch stammt der heroische Sieger aus einer der ältesten Rennperdefamilien Deutschlands.

Auf den großen, weitläufigen Weiden des Gestüts Ravensberg, die heute auch den Rennstall von Andreas Wöhler beherbergen, steht am Sonntagnachmittag eine große Fuchsstute in der Oktobersonne. Langsam rupft die alte Dame das Herbstgras und sieht hinüber zu den Fohlen und Jährlingen, der nächsten Generation Rennpferde. Vielleicht schließt sie um 16:05 genüsslich die Augen und döst in den letzten warmen Sonnenstrahlen. Nichtahnend, dass ihr Ururenkel in Paris gerade Geschichte geschrieben hat. Ihr Name ist Wurftaube. Sie hat viele Fohlen gehabt, genauso wie auch ihre Schwestern, und obwohl sie selbst keine Nachkommen mehr hat, so prägt doch ihr Name die deutsche Vollblutzucht wie kaum ein anderer.

Wurftaube
Wurftaube am 04.07.2011 Rennstall Wöhler in Ravensberg

Wurftaube selbst wurde 1993 geboren und ist eine Tochter des großen Acatenango. In ihrer aktiven Rennlaufbahn gewann sie sieben Rennen bei zehn Starts, nur einmal blieb sie unplatziert. Unter anderem war sie siegreich im Deutschen St. Leger 1996 oder auch im Gerling Preis 1997 auf Gruppe 2-Ebene. Unter ihren Nachkommen befinden sich viele Ausnahmepferde, wie zum Beispiel der Derbysieger aus dem Jahr 2011, Waldpark. Der Dubawi-Sohn wurde von Andreas Wöhler trainiert und setzte sich als Außenseiter unter Jozef Bojko gegen starke Konkurrenten wie Earl of Tinsdal durch. Waldpark deckt heute in Frankreich.

Eine ihrer Töchter ist die 2000 geborene Waldmark, die Mak of Esteem-Tochter platzierte sich auf Gruppeparkett in Newmarket und ging früh in die Zucht und bekam ein Fohlen von dem legendären Monsun. 2009 wurde somit Waldlerche geboren, die für Simon Stokes als Trainer sogar in München auf Listenebene platziert war. Das Außergewöhnliche an Waldlerche ist aber, dass sie die Mutter von eben jenem Galileo-Sohn ist, dem Arc-Sieger Waldgeist.

Waldlerche
Waldlerche am 14.10.2012 in München.

In Wurftaubes Verwandtschaft finden sich noch viele andere Ausnahmetalente. Ihre Mutter Wurfbahn brachte nämlich zum Beispiel 2008 die Lomitas-Tochter Wunderblume auf die Welt und Wunderblume ist bekanntlich die Mutter eines der diesjährigen Derbyfavoriten, namentlich Winterfuchs. Eine ihrer Schwestern ist zudem die ebenfalls von Lomitas stammende Wurfspiel, Wurfspiel bekam 2010 ein Fohlen von Sir Percy, das auch zum Gruppesieger und Publikumsliebling avancierte, gemeint ist der Klassegalopper Wake Forest. Wake Forest gewann unter anderem den Preis der deutschen Einheit im Jahr 2014 und den Großen Preis von Lotto Hamburg 2015.

Waldpfad
Waldpfad am 06.10.2019 in Longchamp.

Eine andere Tochter von Wurftaube ist Waldbeere, ebenfalls eine Mark of Esteem-Stute. Waldbeere wird 1999 geboren und brachte 2014 aus einer Paarung mit Sharmadal den zurzeit in aller Munde galoppierenden Waldpfad. Zwar konnte Waldpfad im Prix de la Foret keine Lorbeeren gewinnen, allerdings zeigte er zuvor bärenstarke Leistungen in England, wie zum Beispiel bei seinem Sieg in einem Rennen auf Gruppe 3-Ebene über 1200 Meter in Newbury. Waldbeere ist aber nicht nur die Mutter von Waldpfad, sondern auch von dem allseits bekannten Wiesenpfad. Wiesenpfad, ein Waky Nao-Sohn, ist heute 16 Jahre alt und selber Deckhengst. In seiner aktiven Laufbahn war er unter anderem siegreich im Großen Preis der Landeshauptstadt Düsseldorf und dem Hessen Pokal 2006, der Badener Meile und dem Großen Preis der Wirtschaft 2008. Zum Abschluss seiner Karriere gewann er in Baden-Baden den 54, Preis der Sparkassen Finanzgruppe 2009.

Wiesenpfad
Wiesenpfad

Diese und noch viele andere Sieger mehr gehören zu einer der Ausnahmefamilien der deutschen Vollblutzucht – besonders auffallend ist auch die prägnante Namensgebung der Linie. An dieser Stelle dürften Sie erwartungsgemäß bereits den Überblick verloren haben. Aber da genau diese Linie jedem deutschen Turffan immer wieder auch strahlende Siege und unvergessliche Hoffnungsmomente beschert hat, wollen wir ihr die Verwirrung verzeihen. Zwischen all den Wäldern und Wiesen im Winter geht deshalb trotzdem ein großer Dank raus an die altehrwürdige Wurftaube, irgendwo auf den saftigen Weiden von Ravensberg. Eine großartige Stute und eine noch viel bessere Mutter, ohne die dem deutschen Rennsport einiges an Qualität verloren gegangen wäre. Ohne sie wöre Waldgeists kämpferischer Sieg unmöglich gewesen.

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