Eine Weihnachtsgeschichte

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Mike war ein Trainer der alten Garde. Er trainierte schon fast so lange Rennpferde, wie er sich erinnern konnte. Viele Rennen hatte er gewonnen, aber auch ebenso viele verloren. Darunter waren auch große Rennen gewesen und er hatte viele Champions trainiert. Wie in jedem Jahr war er am Weihnachtstag auf der Rennbahn gewesen, aber dieses Mal war er mit wenig Erfolg gesegnet. Mike wusste aber, dass das zum Rennsport dazu gehörte. Auch wenn er heute kein Rennen gewonnen hatte, würde seine Pferde bald wieder siegen. Er sorgte sich nicht viel darum, denn er hatte die Leidenschaft, die er zu Beginn seiner Karriere noch hatte, verloren.

Pferd
Pferd

Dass es der Weihnachtsabend war, kümmerte den alten Mann auch nicht, er feierte schon lange nicht mehr. Für ihn war jeder Tag wie der andere. Er war ganz alleine. Früher hatte er eine Frau gehabt und einen Hund. Aber als Mike immer mehr von seinem Feuer verlor, ging auch seine Familie und bald hatte er nur noch seine Pferde. Als aber die Erfolge immer mehr ausblieben, bekam er auch weniger Schützlinge. Mit jedem Tag resignierte Mike ein bisschen mehr. Er hinterfragte nichts mehr, er suchte nichts mehr. Sein Mut und seine Energie waren verschwunden.

Als er an diesem Weihnachtsabend aber von der Rennbahn kam und die Pferde aus dem Transporter lud, um sie für die Nacht fertig zu machen, traute er seinen Augen kaum. Dort standen drei neue Pferde in seinen Boxen. Verwundert rieb er sich die Augen. In der ersten Box stand ein großer Rappe mit blitzenden Augen, der ihn fest ansah.

Pferd wird ausgeladen
Pferd wird ausgeladen

Der alte Trainer konnte sich kaum vom Blick des Pferdes befreien, um in die zweite Box zu schauen. Darin befand sich ein kräftiger Brauner, dessen dichte Mähne im Kunstlicht des Stalles schimmerte. In der dritten Box stand ein Schimmel. Das Pferd war so weiß, dass Mike sich schon wunderte, denn auch wenn er schon viele Rennpferde trainiert hatte, so waren doch die meisten in jungen Jahren noch Grauschimmel und wurden erst mit der Zeit so hell. Er dachte bei sich, dass es das Beste wäre, sich erst einmal um die Starter des vergangenen Renntages zu kümmern. Obwohl es ihm an tiefster Zuwendung für seine Pferde mangelte, stand doch ihr Wohlbefinden immer an erster Stelle.

Mike war gerade dabei, den Dreijährigen, dessen schlechte Leistung des Tages er sich noch nicht erklären konnte, in eine dicke Winterdecke zu hüllen, als er draußen vor dem Stall das Krachen des Donners vernahm. Ein Gewitter im Winter?

Mike wunderte sich immer mehr über diesen seltsamen Abend und dennoch eilte er zur Stalltür, um nach dem Rechten zu sehen. Auf dem Innenhof tobte ein Schneesturm, wie ihn selbst der alte Trainer lange nicht gesehen hatte.

Das Schneetreiben war so dicht, dass er die Hand vor Augen kaum sehen konnte. Mit aller Kraft schloss er die Stalltüren, doch die Pferde in den Boxen erschreckten sich immer mehr vor dem Heulen des Windes und dem Grollen des Donners.

Ein Pferd schaut aus seiner Box
Ein Pferd schaut aus seiner Box

Die drei Neuen standen seltsamerweise ganz ruhig in ihren Abteilen und der Rappe fixierte Mike wieder mit seinem starren Blick. Plötzlich geschah alles auf einmal. Mit einem Krachen flog die schwere Stalltür aus ihren Angeln, das Licht in der Stallgasse flackerte und erlosch auf einmal ganz. Mike eilte zur Sattelkammer, denn er hatte für solche Fälle immer eine Taschenlampe parat. Im Bruchteil einer Sekunde erhellte ein Blitz die Szenerie und das Letzte, was Mike sah, waren die Augen des Rappens, in denen sich der Lichtschein widerspiegelte.

Mike wusste nicht, was geschehen war, als er versuchte die Augen zu öffnen. Die Lider waren ihm schwer, doch mit aller Kraft schaffte er es, sich aufzusetzen. Er suchte auf dem Boden nach seiner Brille und als er sie zurechtrückte, sah er, dass der Rappe in seiner unmittelbaren Nähe stand. Außer dessen ruhigen Atemzügen war alles still. Der Trainer dachte, dass sich der schwere Sturm draußen gelegt haben müsste.

Das schwarze Pferd sah ihn an und in seinem Kopf hallte eine tiefe Stimme: „Ich bin der Geist der vergangenen Weihnacht, folge mir!“

Pferdeauge mit Schneeflocken
Pferdeauge mit Schneeflocken

Seltsamerweise folgte der alte Mann dem Pferd langsam und plötzlich gingen die Lichter über der langen Reihe der Boxen wieder an. Doch Mike musste sich abermals verwundert die Augen reiben, da er keins der Pferde in den Boxen erkannte. Die Stalltüren waren festlich mit Mistelzweigen geschmückt und auch die einzelnen Boxentüren waren mit langen, duftenden Tannenzweigen dekoriert. Ein kleiner Terrier mit Weihnachtsdecke rannte die Stallgasse wild kläffend entlang und schien keine Notiz von ihm zu nehmen.

Der Rappe ging voran, doch seine Hufe machten kein Geräusch auf den ausgetretenen Pflastersteinen. Mike überlegte, ob er sich den Kopf angeschlagen hatte, als der Blitz eingeschlagen war, aber er verspürte überhaupt keine Schmerzen. Plötzlich hörte er leises Stimmengemurmel und die Klänge von Weihnachtsmusik. Wer feierte denn in seinem Stall Weihnachten? Das würde er sofort verbieten, wenn er denjenigen in die Finger bekäme. Mike konnte diesem Fest nämlich schon lange nicht mehr abgewinnen, seit seine Frau ihn verlassen hatte und er immer weniger Rennen gewann. Vor der Tür, die zur ehemaligen Küche führte, blieb der Rappe stehen.

„Warum führst du mich zu dieser Rumpelkammer? Da gibts nichts außer, dass ich dort meinen Kaffee koche“, fragte Mike und ärgerte sich, dass er mit einem Pferd sprach, obwohl er das früher immer getan hatte.

Tanzendes Paar
Tanzendes Paar, Foto: TT

Die Stimmen und die Musik waren aber immer lauter geworden und schienen aus dem heruntergekommenen Raum zu kommen. Vorsichtig öffnete er die Tür und spähte hinein. Was er sah, verschlug ihm den Atem. Denn er sah sich selbst. Eng umschlugen tanzte er mit seiner Exfrau, doch er war viel jünger und es roch nach Punsch, Zimt und Gebäck. Das Paar tanzte zu einem langsamen Weihnachtslied und war so in sich versunken, dass es ihn nicht zu bemerken schien. An den Wänden hingen zahlreiche Trophäen und Mike erkannte, dass sich einige davon in den staubigen Kisten in der Sattelkammer befinden sollten.

„Was ist hier los?“, fragte er das Pferd.

Der Rappe sah ihn an und wandte dann den Blick in eine Ecke der Küche, wo über dem Herd und dem Topf mit Punsch ein Kalender hing. 24. Dezember 1988.

„Warum zeigst du mir das?“, fragte Mike, der sich plötzlich an diesen Abend mit seiner Frau erinnerte.

Abermals antwortete das Pferd nur, indem es den Blick auf das Tanzpaar warf. Mike sah sich selbst und erkannte den glücklichen Ausdruck in seinem Gesicht. Mit geschlossenen Augen tanzte er und drückte seine Frau fest an sich. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Ein Blick in die Glasscheibe der Küchentür verriet Mike, dass dieses Lächeln in der Gegenwart zu tiefen Sorgenfalten geworden war. Er seufzte tief und erkannte, wie einsam er war. Plötzlich krachte abermals der Donner, und ein heller Blitz erleuchtete die Szenerie.

Mike fand sich auf dem Boden der Stallgasse wieder. Die Tannenzweige und der Weihnachtsschmuck waren verschwunden. Es roch auch nicht mehr nach Punsch und Zimt, sondern nach Lederfett, Heu und Staub. Mike setzte seine Brille zurecht. Vor ihm stand das kräftige, braune Pferd und es sah ihn ebenso durchdringend an wie der Rappe zuvor.

Brown Horse
Braune Pferd. Foto: TT

„Ich bin der Geist der gegenwärtigen Weihnacht!“, hörte er die Stimme in seinem Kopf flüstern, „Folge mir!“

Mike stand auf und klopfte sich den Staub von den Beinen. Der Braune wandte sich langsam um und ging die Stallgasse entlang. Viele Boxen waren leer und von Spinnweben überzogen. Die Namensschilder an den Boxentüren enthüllten die Namen lang vergessener Sieger. Die Pferde in den Boxen waren zwar tadellos gepflegt, dennoch wirkten sie traurig und hatten wenig gemeinsam mit den Champions vergangener Tage. Sie blickten nicht auf, als der alte Trainer vorbeiging. Vor der Tür zur Küche blieb der Braune stehen.

„Warum zeigst du mir das?“, fragte Mike.

Der Braune sah nur die Tür an und Mike wusste, dass er sie öffnen sollte. Er drückte die Klinke und sah nur ein paar alte Geräte. Eine kaputte Schubkarre, einen alten Besen und an den Wänden verstaubte Bilderrahmen.

Nichts erinnerte mehr an das tanzende Liebespaar. Auf einem alten Schemel stand eine verstaubte Kaffeemaschine. Daneben ein Kalender. 24. Dezember 2019, las Mike. Er sah sich noch einmal um und erkannte, dass er alles verloren hatte. Er hatte kampflos aufgegeben. Schließlich sank er auf dem Boden zusammen. Doch plötzlich hörte er abermals das Toben des Sturms. Der Donner krachte und der Blitz erhellte den Raum.

Staubiger Raum
Staubiger Raum, Foto: TT

Wieder befand der alte Trainer sich auf dem staubbedeckten Boden der Stallgasse. Als er die schweren Lider hob, sah er den Schimmel vor sich stehen und es ging ein heller Lichtschein von seinem makellosen Körper aus, der Mike blendete.

„Ich bin der Geist der zukünftigen Weihnacht!“, hörte er eine feierliche Stimme in seinem Kopf.

Dieses Mal wusste Mike, was er zu tun hatte und folgte dem Schimmel. Sie gingen an der langen Boxenreihe entlang. Kein einziges Pferd befand sich mehr in dem heruntergekommenen Stalltrakt. Alles war über und über mit Staub bedeckt und Mäuse huschten lautlos durch die schimmeligen Strohreste. Vor der Tür der ehemaligen Küche blieb der Schimmel stehen und seine sanften Augen ruhten auf dem alten Mann. Mike drückte die Türklinke hinunter und was er sah, verschlug ihm den Atem.

White Horse
Weißes Pferd . Foto:TT

Er sah sich selbst neben der alten Kaffeemaschine hocken. Er hatte ein Bild in der Hand. Ein Bild einer Siegerehrung.Auf dem Bild war er selbst zu sehen. Mit strahlendem Lächeln hatte er den Arm um eine schöne Frau gelegt. Mike erkannte das Foto. Es war an dem Tag seines größten Triumphes aufgenommen worden. Damals hatte er das Derby gewonnen und sich am Ziel all seiner Träume gesehen. Die Tränen des alten Mannes, der das Bild in den Händen hielt, tropften auf die staubige Fotografie. Mike warf einen Blick auf den Kalender: 24. Dezember 2022. Deutlicher denn je erkannte er, dass er alles verloren hatte und vielmehr auch sich selbst aufgegeben hatte. Er sah den Schimmel an und fragte: „Das ist die Zukunft? Dann ist es noch nicht zu spät! Bitte bring mich zurück!“

Mike erwachte auf der Stallgasse. Er setzte sich langsam auf und jeder Knochen seines Körpers tat ihm weh. Er blickte sich um. Die drei neuen Pferde waren verschwunden. Dort in der Box zu seiner Rechten stand der Dreijährige mit der Winterdecke und sah ihn erwartungsvoll an. Mike sprang auf. Er wusste, was zu tun war. Hatte er es nicht immer gewusst? Er rannte nach draußen und kam nach kurzer Zeit schwer beladen wieder. Das Pferd musterte ihn verwundert. Der alte Mann schmückte den Stall mit Tannenzweigen. In der Luft hing der Duft von Gebäck, Zimt und Weihnachtspunsch.

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