Ich mag die Zeit vor dem Derby. Genauer gesagt, mag ich die Zeit bis knapp nach der Union, wenn die Würfel alle gefallen sind und wir alle, die im Sport sind, unseren Derbyfavoriten schon gekürt haben. Diese Derbyvorprüfungen sind es, die man als Fan ganz genau im Auge hat und man wartet sehr gespannt darauf, dass man auf das eine Pferd trifft, das für dieses Jahr das eigene Vertrauen genießt. Mein Derbyfavorit lief dieses Wochenende übrigens auch zum ersten Mal, allerdings in keiner der ausgewiesenen Derbyvorprüfungen, sondern in einem Maidenrennen. Je nach Trainingsstand tastet man sich schließlich langsam ran und wer zweijährig nicht gelaufen ist, muss ja irgendwo anfangen.
Jeder hält die Augen offen. Was sehe ich, was empfinde ich, was glaube ich. Es wird gerechnet und Formen verglichen. Wer hat wen geschlagen, wie wird es beim nächsten Mal aussehen? Wie war der Ritt? Wie waren die Gegner? All das wollen wir natürlich wissen und analysieren munter vor uns hin – das auch mit Wonne falsch. Wir wollen schließlich, dass unser Derbyfavorit gewinnt, entsprechend werden wir wohlwollend und mit positivem Mindset an die Sache herangehen, während wir auch mal Offensichtlichkeiten ignorieren (“Was? Der kann doch überhaupt keine 2400m!” – “Oh … ups.”). Wir suchen nach Bestätigung, dass unser Derbytipp passt. Da wir nicht immer richtig liegen, haben wir uns im Hintergrund ein logisches Märchen zurechtgesponnen. Wissen wir natürlich erst nachher. Aber auch das macht immer noch Spaß. Schließlich dürfen wir ja im nächsten Jahr wieder einen Versuch wagen.
Dann werden natürlich auch Statistiken gewälzt. Wie viele Union-Sieger haben überhaupt das Derby gewonnen? Welches Pferd reitet Andrasch Starke – denn mit Starke liegt man nie falsch? Wie viele Derbysieger kamen über das Bavarian Classic? Die Fragen beantworten wir uns passend. Na ja … waren jetzt nicht so viele Unionssieger in der jüngsten Vergangenheit, aber DIESES Mal, ganz bestimmt. Will man auf das Pferd von Andrasch setzen, dann sagt man natürlich: “Der ist hungrig nach dem Rekord!”. Setzt man gegen ihn, sagt man sich: “Ach, der kann ja nicht immer in Hamburg gewinnen.” Auch wenn natürlich am Ende ein offizieller Favorit gekürt wird, muss der nicht gewinnen. Einen gemeinsamen Konsens gibt es hier sehr selten, es sei denn, das Pferd steht so weit über dem Jahrgang, dass alles andere eine Farce wäre.
Darum ist das jetzt auch die Zeit, wo man seine Langzeitwetten platziert. Vielleicht sogar noch früher – ich persönlich mache das aber nie nach dem Winterfavoriten, wenn der Jahrgang zweijährig ist und gerade seinen “König” krönt. Der Winterfavorit ist einfach nicht meine Prüfung, um einen Derbysieger zu bestimmen. Andere machen das ganz anders, gucken sich die frühreifen Pferde an und entscheiden dort vielleicht schon einiges. Deswegen ist die Zeit so spannend, alle fiebern einem Ereignis entgegen und man sichert sich hier einen guten Kurs, vergleicht dort die Möglichkeiten, während man mit so ziemlich jedem auf der Rennbahn nicht einer Meinung ist. Denn jeder weiß: Der eigene Derbytipp ist immer noch der Beste. Schlauer sind wir allerdings erst im Juli, wenn dann auch wirklich der Derbysieger 2023 gekürt wurde.